An der Spitze unseres Theologischen Beirats steht der profilierte Theologe Prof. Dr. Thorsten Dietz. Im Interview erläutert er, wofür es einen Theologischen Beirat in unserem Stiftungsverbund braucht – und mit welchen Entscheidungen das Gremium ringt.
Thorsten Dietz, wozu braucht es in unserem Verbund einen Theologischen Beirat?
Thorsten Dietz: In unserem Gesamtkonzern haben wir es mit einem Ensemble diakonischer Werke zu tun. Es gibt also nicht nur einen klaren Aufgabenbereich, für den wir da sind – Gesundheitsfragen und diakonische Fragen aller Art –, sondern es gibt auch eine Motivation. Diese teilen viele Mitarbeitende und auch die Leitung: Aus christlichem Glauben heraus Menschen zu lieben und ihnen zu dienen. Diese Motivation schlägt sich aber auch nieder in einer christlichen Sicht des Menschen, in christlichen Grundwerten – es ist also eine Frage des Profils, diese offenzulegen und sprachfähig zu sein: Wofür stehen wir? Warum machen wir das? Und was bieten wir an?
Der Glaube spielt bei uns eine große Rolle. Bei all der Vielfalt unserer Häuser: Wie positioniert sich der Theologische Beirat zu Mitarbeitenden, die mit dem christlichen Glauben gar nichts zu tun haben?
Dietz: Sämtliche diakonischen Werke haben mittlerweile ein breites Spektrum von Mitarbeitenden, von denen zunehmend viele keine Kirchenmitglieder sind – geschweige denn im christlichen Glauben verwurzelt. Damit kommen wir aber immer schon klar, denn wir sind ja nicht Gemeinde oder Kirche, wo es darum geht, christlichen Glauben zu praktizieren. Vielmehr leitet uns ein diakonisches Handeln aus der Nächstenliebe heraus.
Wir leben in einem Land und einem Kulturkreis, den der christliche Glaube rund 1.500 Jahre geprägt hat. Es gibt also eine starke Bereitschaft vieler Menschen, dem Nächsten zu helfen, Barmherzigkeit zu üben, sich um die Schwachen zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen.
Dieses christliche Erbe vertreten wir als diakonische Einrichtung ausdrücklich. Wir wissen natürlich, dass nicht alle unseren Glauben teilen. Wir wissen aber, dass sehr viele Menschen die Werte sehr attraktiv finden, die mit diesem Glauben verbunden sind und häufig deswegen auch gerne bei uns arbeiten.
Mit welchen Themen beschäftigt sich der Theologische Beirat?
Dietz: Das ist ein breites Spektrum. Zum Beispiel ist es immer eine Frage, wie wir mit Mitarbeitenden umgehen, die nicht dem christlichen Glauben angehören, wie Juden, Hindus, Sikh – oder Muslimas, für die das Tragen des Kopftuchs als Symbol wichtig ist. Dürfen sie in unseren Einrichtungen mit Kopftuch arbeiten? Und die Antwort lautet natürlich: Ja. Auch das Tragen eines Kopftuchs ist kein Ausschlusskriterium. Denn es kann ja keine Sache des christlichen Profils sein, Angehörige anderer Religionen auszugrenzen. Gleichwohl kommunizieren wir, dass wir von unseren Mitarbeitenden eine Loyalität zum christlichen Gepräge unserer Häuser erwarten. Wir machen explizit christliche Angebote an alle, an denen jedoch niemand verpflichtend teilnehmen muss.
Zu unserem Profil gehört es indes nicht, Angebote aller anderen Religionen zu machen. Wir müssen also jedem, der bei uns anfängt, kommunizieren: Es gibt eine große Offenheit und Respekt für Menschen aller Weltanschauungen aus unserer christlichen Prägung heraus – im Umkehrschluss wünschen wir uns den Respekt und Loyalität genau dieser Prägung gegenüber.
Weitere Themen, mit denen wir uns beschäftigen, sind die biomedizinisch großen Fragen von Abtreibung bis Sterbehilfe. Aber auch: Was machen wir mit Vergewaltigungsopfern und dem Thema „Pille danach“ oder wie gehen wir damit um, dass Krankenhäuser in einem Gesundheitsmarkt auch schauen müssen, dass sie Geld verdienen? Wie viele Angebote plastischer Chirurgie und nicht medizinisch notwendiger Schönheits-OPs wollen wir haben? Das sind sehr schwierige Abwägungen. Denn wir können ja nicht sagen: Hauptsache so viel Evangelium wie möglich – und wenn wir darüber Pleite gehen, dann soll das so sein.
Also kein „sterben in Schönheit“?
Dietz: Auf keinen Fall, denn das wäre ja absolut nicht verantwortlich, weder unseren Mitarbeitenden noch unseren Patientinnen und Patienten gegenüber. Natürlich müssen Betriebe sich rechnen und am Markt bestehen – es wäre absurd zu sagen, das sei unwichtig.
Was hat den Beirat beim Thema „plastische Chirurgie“ bewegt?
Dietz: Nun, jemandem beispielsweise nach einem Unfall das Gesicht wieder zu rekonstruieren, steht außer Frage. Konkreter wurde es indes in unserem Krankenhaus in Sachsenhausen, das mittlerweile jedoch verkauft wurde: Wenn jemand nach einer bariatrischen Operation viel Gewicht verloren hat und dadurch die Haut am Körper hängt, dann stellt sich schon die Frage: Geht es nur um Kosmetik? Oder auch um medizinische Aspekte, weil die überschüssige Haut auch Risiken darstellt? Dann steht der medizinische Nutzen im Fokus, und an dem kann es ja keinen Zweifel geben.
Wie breit ist das Gremium besetzt?
Dietz: Es findet sich aus allen Einrichtungen ein Vertreter im Theologischen Beirat. Auch der Vorstand ist dabei – hat aber kein Stimmrecht. Da wir aber ein Gremium sind, das den Vorstand berät, hören wir ihn natürlich höchst aufmerksam an. Dieses Zusammenspiel von Vorstand und Beirat sowie im Beirat selbst das Zusammenspiel von theologisch und seelsorgerlich geschulten Menschen und medizinisch-pflegerisch tätigen Menschen ist ganz wesentlich für uns.
Darüber hinaus sind wir alle sozial interessiert und sachkundig sowie theologisch-christlich gebunden und wollen all diese Kompetenzen zusammenbringen. Denn in den ethischen Fragen, mit denen wir uns auseinandersetzen, geht es immer um Urteile und Entscheidungen, die zum einen nach biblischen Maßstäben und Geboten Gott gerecht werden und zum anderen den Menschen und ihrer Realität.
Werden diese beiden Punkte zum Gegensatz gemacht, wird es fatal: Wenn das Wohl des Menschen völlig abgekoppelt von christlich-biblischen Werten wird, ist das eine Schwierigkeit für unser Profil. Und wenn Gottes Gebote in einer Weise verstanden werden, die für Menschen schädlich ist, ist es auch ein Problem. Diese Punkte zusammenzubringen ist die Kunst aller Ethik – und folglich ringen wir um diese Fragen.
Wie emotional wird denn gerungen?
Dietz: Manchmal sehr emotional – nehmen wir zum Beispiel das Thema Sterbehilfe und assistierter Suizid. Es gibt in der christlichen Tradition die Position, die besagt, dass Leben absolut heilig ist und jeder Schritt zu einer Aufweichung – zum Beispiel eine Medikamentengabe, damit der Tod schneller eintritt – ein absolutes Problem darstellt.
Dem gegenüber steht die Tendenz in christlichen Kirchen zu sagen, dass Menschen für sich entscheiden dürfen, zu gehen. Dass sie keine weiteren medizinischen Hilfen und lebensverlängernde Maßnahmen wie Beatmung oder künstliche Ernährung wollen. Das ist eine Entwicklung der vergangenen 30 Jahre, die wir akzeptieren und die für uns selbstverständlich ist.
Was uns heute jedoch herausfordert, ist der Wunsch von Menschen, selbstbestimmt zu sterben. In Nachbarländern wie der Schweiz oder den Niederlanden ist das längst Realität und kaum noch umstritten. In Deutschland gab es lange eine Gesetzeslage, die kommerzielle Beihilfe zum assistierten Suizid ausdrücklich verboten hat – das wurde jedoch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe gekippt. Die Politik wird also eine neue gesetzliche Regelung finden müssen. Sich mit dieser Diskussion auseinanderzusetzen und für uns etwas zu formulieren, mit dem alle leben können, war auch eine emotionale Herausforderung.
Wie ist die Entscheidung ausgefallen?
Dietz: Wir können uns nicht vorstellen, dass in unseren Einrichtungen assistierter Suizid zum Angebot gehört. Und wir werden auch weder fördern noch dafür werben, dass sich ein solches Angebot normalisiert. Denn wir sind überzeugt, dass dann, wenn Weiterleben oder Sterben zwei Optionen sind, zwischen denen man jederzeit wählen muss, manche Menschen den Tod wählen, weil sie niemandem mehr zur Last fallen wollen. Wir sind der christlichen Überzeugung, dass niemand das Gefühl haben sollte, durch sein Weiterleben Menschen oder die Gesellschaft mit Arbeit oder auch finanziell zu belasten. Denn das wäre fatal. Niemand sollte angesichts des Todes das Gefühl haben, dass sein Weiterleben eine Zumutung ist.
Zugleich sagen wir: Wir müssen damit rechnen, dass auch in unseren Einrichtungen die Zahl der Menschen, die den Wunsch haben, selbstbestimmt aus dem Leben zu gehen, steigen wird. Wir Menschen im Beirat wissen genug um schier unerträgliches Leiden am Lebensende wie auch der Angst davor, so dass wir solche Entscheidungen im Einzelfall gut verstehen können. Um niemandem zu verurteilen, abzuweisen oder alleine zu lassen, haben wir formuliert, dass wir bereit sind, Wege mitzugehen – wenn auch nicht alles anzubieten, was heute diskutiert wird.
Wir nehmen im Konzert der Positionen eine konservative Haltung ein. Es gibt durchaus innerhalb der Diakonie Stimmen, die sagen, selbstbestimmtes Sterben ist etwas, das man aus christlicher Sicht akzeptieren kann und muss. So weit gehen wir nicht – aber eben auch nicht in die Richtung, einen Kulturkampf anzuzetteln und allen Menschen Druck zu machen, nicht einmal diese Gedanken zu hegen.
Wir haben lange, lange darüber diskutiert. Es ist teils eine seelsorgerliche Frage, aber auch eine große Herausforderung der Palliativmedizin. Nämlich Menschen das Sterben so erträglich zu machen, dass sie nicht in seelischer Verzweiflung oder in furchtbaren Schmerzen ihr Geschick als aussichtslos oder grauenhaft empfinden müssen.
Und wie sieht es beim Thema Abtreibung aus?
Dietz: Für uns ist das Leben eine Gabe Gottes. Es ist von Anfang an mit Menschenwürde und Personenwürde verbunden – so ist es auch im Embryonenschutzgesetz formuliert. Entsprechend halten auch wir den Schutz des Lebens für ein sehr hohes Gut. Was der Paragraf 218 im Moment ja genau so achtet, da er sagt: Abtreibung ist grundsätzlich rechtswidrig. Gleichzeitig sind dort Bedingungen formuliert, unter denen ein Eingriff straffrei bleibt. Das ist eine Lösung, die wir aus christlicher Überzeugung sehr gut respektieren können. Wenn wir aber sagen, von Anfang an hat ein Mensch Personenwürde und ist kein Gegenstand, über den bestimmt wird, dann können wir eine Frau doch nicht quasi verdinglichen und sagen, sie hat keine Entscheidung mehr – wenn sie schwanger ist, muss sie auf jeden Fall gebären.
Gleichzeitig gibt es medizinisches Personal, das sich genau deshalb für unsere Kliniken entschieden hat, weil diese Menschen sich nicht an Abtreibungen beteiligen wollen. Doch gehören Abtreibungen bei uns nicht zum Regel-Angebot. Wir haben ein christliches Profil, treten für den Schutz des Lebens ein – und die medizinische Lage in den Großstädten ist nicht so, dass wir der einzige Ort wären, an dem eine Abtreibung stattfinden kann.
Wie bindend sind Ihre Entscheidungen?
Dietz: Unsere Entscheidungen gehen an den Vorstand – und der ist natürlich völlig frei zu sagen, ob er sich daran gebunden sieht oder nicht. Wir liefern dafür Orientierungsmaßstäbe. Aber natürlich ist das Ziel der gemeinsamen Beratungen, dass der Vorstand eine theologisch begründete Entscheidungsgrundlage für das hat, was er nach außen und innen vertritt. Zudem ist im medizinischen Bereich klar, dass den Ärztinnen oder Ärzten niemand die Einzelfallentscheidung abnehmen kann.
Bei unseren Entscheidungen steht der Mensch im Fokus. Das christliche Menschenbild ist nicht irrational und in blindem Gehorsam ernst zu nehmen. Es ist auch hilfreich und lebensdienlich, den Menschen als endliches, verletzliches, schutzbedürftiges, aber auch verantwortliches Wesen zu respektieren. Diese hohe Sicht des Menschen, die voller Barmherzigkeit und Mitgefühl ist, steht im Zentrum des christlichen Glaubens. Daher denke ich, dass es ganz vernünftig einer Gesellschaft guttut, diese Stimme im Raum zu haben und ernst zu nehmen.